Gedächtnis des Konzils

von Eric Djebe


Das junge Mädchen

Ich bin sicher einer der jüngsten Menschen, die das 2. Vatikanische Konzil bewusst miterlebt haben. Ich war bei der Eröffnung gerade elf Jahre, eigentlich zu jung für einen bewussten Vollzug dessen, was damals geschah. Jedoch lebte ich in einer Famile, die sich bereits über Generationen in der liturgischen Bewegung engagiert hatte, in der ein nicht nur intellektuelles Verständnis lebte für das tiefe Wurzelgeflecht der katholischen Kirche und des katholischen Glaubens. Und deshalb lebte dort auch die Verbindung aus absoluter Loyalität zur Kirche (das „sentire cum ecclesia“) bei gleichzeitiger kritischer Distanz zur jeweiligen Ausprägung und insbesondere Führung dieser Kirche.
Um den Kern, den zentralen Impuls dessen zu beschreiben, was damals geschah, möchte ich die Worte eines niederländischen Agnostikers zitieren, Verfasser eines Buchs über das Konzil: „Mir war die katholische Kirche immer wie eine fette alte Frau vorgekommen, die verdrossen in goldbestickten Kleidern einher watschelte und mit ihrem juwelenberingten Zeigefinger jungen Mädchen drohte, die zu kurze Miniröcke trugen. Und nun erschien sie plötzlich selbst wie ein junges Mädchen, strahlend, offen und voller Lebensfreude.“
Dieser Kern, dieser Impuls, dieser Prozess, der damals entstand, ist nicht völlig definierbar, kann nicht hundertprozentig beschrieben oder an den Dokumenten des Konzils festgemacht werden. Immer wieder zeigt sich bei näherer Analyse, dass sie mit durchaus konformistischen ersten Entwürfen begannen, dass sich aber plötzlich eine Dynamik entfaltete, dass sich die Texte veränderten in Richtung zu etwas grundlegend Neuem, zu etwas, was noch wenige Jahre zuvor unter der Herrschaft von Pius XII undenkbar gewesen wäre. All diese Dokumente waren im Endergebnis weniger fertige dogmatische Festlegungen als vielmehr Wegmarken, Zeugen eines Aufbruchs zu neuen Horizonten.
Aggiornamento

Für solche unvorhersehbaren, undefinierbaren Impulse zu etwas Neuem hin gibt es im christlichen Glauben ein Wort: Heiliger Geist. Trotzdem lassen sich bei genauerem Hinsehen Kraftquellen ausmachen, die den konziliaren Prozess beeinflusst und angeschoben haben. Einen Hinweis dafür liefert das Stichwort des „aggiornamento“, in seiner heutigen Bedeutung eine Schöpfung von Roncalli, später Johannes XXXIII: “ Seht da unsere heilige Kirche, immer jugendlich und bereit, dem verschiedenen Verlauf der Lebensumstände zu folgen mit dem Zweck, anzupassen, zu korrigieren, zu verbessern, anzuspornen.“
Das Entscheidende war hier die Einstellung dieses Papstes, das „Jugendliche“, ein unversiegbarer Optimismus, der in der Entwicklung der Welt und insbesondere der Kirche ganz überwiegend ein Potenzial zum Guten sieht, im Gegensatz übrigens zu seinem Vorgänger und im absoluten Gegensatz zum heutigen Pontifex. Bei Roncalli selbst entsprang dieser Optimismus wohl vor allem seinem inneren Wesen und seinem tiefen Vertrauen in die Kirche. In seiner breiten Wirkung verband sich dieses Stichwort aber mit dem allgemeinen Optimismus der damaligen Zeit, dem Optimismus der Moderne.
Die Vision des guten Neuen, des offenen Horizonts, wie sie im Konzil entstand, entsprang zum großen Teil dem Rückgriff auf katholische Traditionen. Aber durch das Fenster, das hier geöffnet wurde, drang natürlich auch der allgemeine Geist dieser Zeit ein, eben der Geist der Moderne mit seinem Glauben an den Fortschritt, an die Demokratie und an die Rationalität. Und wie hätten sich die Konzilsväter auch wehren sollen gegen diesen Geist nach einem guten Jahrhundert steriler Wagenburgmentalität in der Kirche?
Der trügerische Verbündete

Wirklich wichtig wurde die Moderne für die konziliare Bewegung aber nach Ende des Konzils, als die Versammlung der Bischöfe auseinander lief und der Gruppenprozess sich auflöste. Einmal verlor so der Impuls an Stärke und insbesondere an Richtung; eine gewisse Ziellosigkeit machte sich breit, z.B. in der Gestaltung der Liturgie. Vor allem aber hatte das Konzil den Apparat, die Strukturen intakt gelassen. Und der Apparat begann alsbald mit dem Rollback. Sehr schnell wurde sichtbar, dass die konziliare Bewegung innerhalb der Kirche keine Machtbasis hatte und das hieß, keine Möglichkeit, sich gegen den Rollback zu wehren.
In dieser demoralisierenden Situation gab es den einen gefühlten Verbündeten, die Moderne. Man tröstete sich mit dem Rückenwind durch die Welt, durch den Zeitgeist, der irgend wann einmal in  naher Zukunft diese verkrusteten Strukturen wegblasen würde. Schon allein das Kirchenvolk würde sich das alles nicht mehr gefallen lassen und in Scharen weglaufen. Und das könnte der Apparat doch nicht in Kauf nehmen.
Manche Leute glauben das immer noch. Wollen es vielleicht glauben, weil es keine Hoffnung mehr gibt, wenn sie diese aufgeben müssten.
Der Apparat und sein Feldherr
Die Strukturen blieben unangetastet und der Rollback begann. Das war zu erwarten. Trotzdem war vieles offen. Oder, es wäre offen gewesen, wenn der Apparat nicht den entscheidenden Protagonisten gefunden hätte, einen der großen Strategen der Kirchengeschichte: Kardinal Ratzinger.
Angetrieben wurde und wird er als Papst immer noch durch einen tiefen Pessimismus. Danach gibt es eine grundlegende Wahrheit über die Welt. Enthalten ist sie im Weltbild Platos, gesehen durch die Brille des Augustinus. Dies ist die einzig mögliche geistige Grundlage für das Christentum, für Europa und letztlich für die ganze Menschheit. Sie wird aber seit Jahrhunderten zersetzt durch einen diffus definierten Relativismus, der Hauptquelle alles Übels. Und mittlerweile gibt es in dieser steigenden Flut des Dunkels nur eine rettende Arche, die katholische Kirche. Da es, zumindest im Moment, keine Heilung der Welt gibt, muss zumindest diese Arche gegen Zersetzung von innen geschützt werden. Und dafür, für die Erhaltung dieser letzten Verteidigungslinie der Menschheit, ist jedes Mittel erlaubt. Jedes ohne Ausnahme.
Die notwendige Härte zur Erledigung des Konzils brachte Ratzinger also von Anfang an mit. Was ihn auszeichnet, war die Anpassungsfähigkeit seiner Strategie und das genaue Maß, das er an seinen Gegnern nahm.
Die große Strategie
Zu Beginn seiner Laufbahn als Präfekt der Glaubenskongregation ging er noch ganz im alten Stil vor, als er daran ging, die Causa Küng zu erledigen. Dabei schwang er den großen Hammer in altgewohnter Weise mit kirchenrechtlichen Verfahren, Entzug der Lehrerlaubnis usw., das alles begleitet vom rollenden Donner vatikanischer Drohungen. Die große mediale Aufmerksamkeit auf dieses Schauspiel beschädigte allerdings ihn selbst und seine Kongregation mehr als den Gegner. Und aus der Analyse dieses Debakels entwickelte er seine neue und durchschlagende Strategie.
Sie besteht aus den folgenden Elementen:
Innerkirchliche Repressionen finden nur noch unter dem Radar der Medien statt. Ihre Opfer sind sie so kleinformatig wie möglich zu erledigen, z.B. vom Ortsbischof oder vom Ordensgeneral, auf keinen Fall zentral von Rom aus.
Dazu muss der Episkopat gleichgeschaltet werden. Bischöfe müssen zu Transmissionsriemen der Zentrale werden. Neubesetzungen sind in diesem Sinne zu steuern. Verdächtigen Bischöfen wird ein linientreuer Weihbischof o.ä. in den Nacken gesetzt, der dann nach dem Freiwerden des Bischofsstuhls nachrückt.
Unterhalb des Radars ist die Repression so engmaschig wie möglich zu fahren. Die modernen Kommunikationsmittel liefern hierfür die technischen Voraussetzungen.
Um Druck und Aufmerksamkeit aus dem Verfahren zu nehmen, wird der Griff auf die Laien so gut wie aufgegeben. Sie erhalten Narrenfreiheit.
Der einzelne Nachweis dieser Punkte würde den Rahmen meiner Schrift sprengen. Der Erfolg der Strategie liegt auf der Hand. Dort, wohin der kurze, aber schwere Arm der katholischen Kirche reicht, ist das freie Wort verschwunden und durch den „deutschen Blick“ ersetzt worden, das kurze Umschauen, ob auch niemand zuhört, bevor man seine Meinung preisgibt. Einem erschütternden Beispiel begegnete ich erst vor kurzem, als mir ein kirchlich beschäftigter Theologe seine Meinung zur Theologie des Papstes kundtat. Sie war zwar kritisch, bewegte sich aber absolut im Rahmen der Wissenschaftlichkeit. Sie schloss ab mit der dringenden Bitte, ihn nicht als Quelle zu nennen, da er ansonsten um seine berufliche Existenz fürchte.
Das postmoderne Kirchenvolk

Die konziliare Bewegung hat darauf gesetzt, dass der Apparat Rücksicht nehmen müsse auf das Kirchenvolk, da ansonsten der moderne, mündige Mensch mit den Füßen abstimmen und in Massen die Kirche verlassen würde. Dieses Kalkül hat versagt. Denn erstens ist für das Abdichten der Arche, wie bereits gesagt, kein Opfer zu hoch, und sei es etwa die Halbierung des Kirchenvolkes in Deutschland. Und zweitens wird dies von der Zentrale inzwischen vermutlich als kein allzu hohes Opfer angesehen. Denn dem Apparat ist tatsächlich das Kunststück gelungen, große Teile seines Volkes aufzulösen und an seiner Stelle ein neues zu wählen.
Die nachwachsende Generation von Katholiken, also alle unter 60 Jahren, hat den konziliaren Impuls selbst nicht mehr erlebt, sondern nur noch die unter dem Druck des Apparats und der Auflösung des Gruppenprozesses zunehmende Zielunsicherheit des Ergebnisses. Dies ist ein Grund, warum das Konzil im allgemeinen Bewusstsein an Wertigkeit verloren hat.
Vor allem aber ist die Moderne als entscheidender Verbündeter des konziliaren Prozesses abgelöst worden von der Postmoderne, die
die modernen Prinzipien von Rationalität, Ziel­gerichtetheit und Innovationsstreben grundsätzlich als trügerisch und totalitär ablehnt (der Hintergrund für eine Abwertung des konziliaren Geistes)
zunehmend die Zeichen selbst höher bewertet als das Bezeichnete und das Ornament als Wert an sich sieht,
insbesondere fassadenhaft Stilelemente der Vergangenheit zitiert unter Miß­achtung der Funktion (Antrieb für eine letzliche inhaltsleere Wiederbelebung alter ritueller Formen) und
eine instinktive Skepsis gegen langfristige Zielsetzungen hegt und sich über den Kick des Events motiviert (der jederzeit abrufbare Flashmob zu „Benedetto“-Veranstaltungen wie dem Weltjugendtag).
Verbunden mit diesen Entwicklungen ist eine der Postmoderne an der Oberfläche gegenläufige Tendenz, die Wiederbelebung der Papstgläubigkeit. Dieses Phänomen wird von zwei Motiven angetrieben. Bei aller Heroisierung einer zeitgenössischen Orien­tierungs­losigkeit durch die Postmoderne suchen doch viele Menschen nach einer Orientierung. Aber die Postmoderne, zusammen mit der zuvor erwähnten Narrenfreiheit für Laien, erlaubt ein Bekenntnis zur päpstlichen Autorität als zu nichts verpflichtende Fassade mit mehr oder weniger echter Substanz dahinter.
Ein klares Indiz für diese Tendenz, für den Umbau des Gottesvolkes, ist die Präsenz der jeweiligen Positionen im Internet. Rein theoretisch müssten dort konziliare Gruppen stark vertreten sein als Grassroot-Bewegung unter dem Druck eines autoritären Apparats. Tatsächlich sind z.B. mindestens 95% der Blogs dort von eindeutig reaktionärer Tendenz, insbesonders die „Alpha-Blogger“ wie Alipius und ElsaLaska.
Die Gottesfrage

Was wäre angesichts dieser Lage die richtige Konsequenz für uns „Konziliare“? Ich möchte die folgenden Schritte als unvermeidlich ansehen:
Das Eingeständnis der von mir skizzierten Verhältnisse als Grundlage einer realistischen Strategie
Die Erkenntnis, dass es keine Patentformel gibt, nach der die Dynamik des konziliaren Prozesses fortzuschreiben gewesen wäre. Der Prozess war ein unerwartetes Geschenk und der Geist weht, wo er will
Die Erforschung der Lücken, die dieser Prozess im Schwung seiner Entfaltung übersehen hatte und die eine tiefere Grundlegung seiner Ziele ermöglichen würde
Die größte diese Lücken ist wohl, wie auch Rahner festgestellt hat, die Gottesfrage. Wenn sie wirklich angegangen wird, wenn dieser Abgrund aufgerissen wird, dann müssen wir uns allerdings ehrlich davon freimachen, irgend ein bestimmtes Ergebnis zu erwarten, das unseren Standpunkt in allen Punkten stärkt. Ganz sicher wird sich daraus eine ganze Reihe sehr unangenehmer Fragen an den Apparat der Kirche ergeben. Ebenso müssen wir aber bereit sein, ebenso unangenehme Fragen an uns selbst gestellt zu bekommen.

Auf seinem Blog  www.ericdjebe.com setzt sich Eric Djebe mit Grundfragen des Glaubens auseinander.