„Vermassung der Gemeinden“ statt „Communio“

Vor allem aus den beiden genannten Gründen – Vermassung der Gemeinden und Fehlen eines Katechumenats für Erwachsene (insbesondere eines nachgeholten für jene, die als Säuglinge getauft wurden) – ist es zu erklären, dass die Kirche von einer Gemeinschaft von Gemeinden aus im Glauben mündig gewordenen Christen, also von einer „Gemeindekirche“, zu einer „Priesterkirche“ wurde, in der die geweihten Amtsträger über einem anonymen Volk stehen. Dementsprechend entwickelte sich auch die Theologie des Amtspriestertums: Nicht mehr die Gemeinde verkörpert Christus als sein „Leib“, sondern der Amtspriester wird zum Stellvertreter und Repräsentanten Christi, zu dem über der Gemeinde stehenden Leiter, zum Heilsmittler und Spender der Sakramente.(258) Die Kirche wurde zu einem hierarchischen System. Diese Entwicklung wurde im Zweiten Vatikanum keineswegs korrigiert. Dort gab es zwar eine Vision von Kirche als Communio und damit als geschwisterlicher Gemeinschaft: „Da aber die Kirche in Christus gleichsam das Sakrament bzw. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit des ganzen Menschengeschlechts ist …“ („Lumen gentium“, Art. 1: DH 4104; ebd. Art 8 wird die Kirche als „Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe“ bezeichnet: DH 4118). Doch an der kirchlichen Lehre über das amtliche Priestertum und an der hierarchischen Struktur wurde nichts geändert (trotz der Rede von Kollegialität). In einem Bild ausgedrückt: Es wurde eine Communio-Kirche als Ziel ins Auge gefasst, aber die Weichen wurden nicht in diese Richtung gestellt, und es wurden keine neuen Geleise gelegt. Daher blieb sie eine Vision.
Dazu schreibt Jean-Paul Audet: „Im Großen und Ganzen spiegelt ‚Lumen gentium‘ ein Kirchenbewusstsein wider, das dem bedeutend näher kommt, in dessen Sinne sich in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts die Dinge entwickelten, als dem der Zeit vorher…“(259) Wichtigstes Bild für die Kirche bleibt im Konzil das Volk. Dieses wird als eine große und daher anonyme „Masse“ oder „Herde“ gesehen, die nicht um der nötigen Gemeinschaft der Gläubigen untereinander willen, sondern um der Betreuung durch geweihte Amtsträger willen in Diözesen und Gemeinden „aufgeteilt“ wird.(260)
Die Rückgewinnung der Basis- oder Stammgemeinde wäre also der entscheidende Weg zu einer Erneuerung der Kirche als Communio im Sinn des Neuen Testaments. Dazu wieder Jean-Paul Audet: „Die ‚Stammgemeinde‚ … ist der ursprüngliche und normale Platz, an dem die christliche Brüderschaft in ihrer ganzen Fülle erkannt, entfaltet und gelebt werden kann. Es wäre daher naiv, anzunehmen, wir könnten auf ihre Mittlerrolle verzichten. Der Schlüssel zu einer echten Erneuerung der Kirche ist heute in eben dieser Stammgemeinde zu suchen, die der Natur der Dinge nach der eigentliche Ort für die Geburt und Entwicklung christlicher Brüderschaft ist.“(261)

(258)  Das wurde schon sehr bald und wird auch heute noch äußerst fragwürdig begründet: Im Katechismus der Katholischen Kirche (Nr. 1589) wird mit den Worten Gregors von Nazianz (or. 2, 73) vom Priester gesagt: „Er … erneuert die Schöpfung, … schafft sie neu für die himmlische Welt und, was das Erhabenste ist, wird vergöttlicht und soll vergöttlichen.“
(259)  Jean-Paul Audet, Priester und Laie in der christlichen Gemeinde. Der Weg in die gegenseitige Entfremdung. In: Der priesterliche Dienst. Bd 1: Ursprung und Frühgeschichte. Mit Beiträgen von Alfons Deisler, Heinrich Schlier, Jean-Paul Audet. Freiburg i. Br. 1970, 115-175, hier: 142 Anm. 9.
(260)  Vgl. zu diesem hierarchischen Kirchenbild unten Abschnitt 12/d in diesem Buch: GOTT, Christus und die Armen von Paul Weß, Münster 2009 (www.itpol.de/?p=333).
(261)  Jean-Paul Audet, Priester und Laie in der christlichen Gemeinde, a.a.O., 132.

aus: Paul Weß: GOTT, Christus und die Armen, Münster 2009 (als pdf-Datei auf www.itpol.de/?p=333)