Walter Dirks zur Zukunft des Vaticanum II

In einem Rückblick auf das II. Vatikanische Konzil schrieb Walter Dirks (1901-1991), bekannter Publizist und engagierter Katholik, unter dem Titel „Gehorsam und Aufbruch“: „Es wäre schlimm, wenn der Ertrag des II. Vaticanums in derselben Weise und in demselben Geiste als kodifiziert gälte, wie die Beschlüsse des Tridentinums und des I. Vaticanums… Es wäre erst recht schlimm, wenn der Geist, der in Rom so viele bewegt hat, nun gehindert würde, weiterhin die Herzen und Köpfe der ecclesia semper reformanda in Unruhe zu bringen“ (Die Autorität der Freiheit, Bd. III, 1967, S. 621). Beide Entwicklungen, die Mumifizierung der Verlautbarungen des Konzils und die Unterdrückung seines Geistes, sind nur allzu bald eingetreten und heute, 50 Jahre nach dem Anstoß Johannes XXIII., „die Fenster aufzureißen“ und „die reinen klaren Linien der Urkirche“ nachzuziehen, steht zur Entscheidung, ob der Aufbruch des II. Vaticanums einen Bruch mit dem Überkommenen und einen Neuanfang bedeutet, oder ob das, was damals geschah, nun kodifiziert und in den breiten Strom von kirchlichem Traditionalismus eingeordnet nur als solcher in der Gegenwart noch wirksam werden soll. Unmittelbar  nach dem Konzil hatte schon Karl Barth, der bedeutendste evangelische Theologe des 20. Jahrhunderts, die Auffassung vertreten, die Beschlüsse des II. Vaticanum seien gegenüber dem Tridentinum und dem I. Vaticanums ein deutlicher Bruch und ein Neuanfang (Ad limina apostolorum, 1967).

Das Konzil und Lateinamerika

An das Konzil zu erinnern und Wege zu erkunden, „die die Kirche in der Zukunft wird zurücklegen müssen, wenn sie dem Geist des Konzils treu bleiben will“ (Der unterbrochene Frühling, 2006, S.10), hatten sich im November 2005 Theologen aus Lateinamerika und Europa aus Anlass des 40. Jahrestages der Beendigung des II. Vatikanischen Konzils vorgenommen. Angesichts neoliberaler Globalisierung und ihrer zerstörerischen Folgen für das Leben auf der Erde und viele Menschen in den Ländern des Südens sowie einer mythenverdächtigen Wiederkehr der Religion, skizzierten sie Aufbrüche in eine hoffnungsvolle Zukunft.
Demgegenüber hat die Glaubenskongregation mit ausdrücklicher Billigung Benedikts XVI. am 11. Juli 2007 ihrerseits klar gemacht, wie das II. Vaticanum laut päpstlicher Weisung verstanden werden soll, und eine Erklärung vorgelegt (Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten der Lehre über die Kirche), die die Aufbrüche des Konzils beiseite schiebt und ein Kirchenverständnis propagiert, das der exklusiven Interpretation v o r  dem II. Vaticanum entspricht. Für den regierenden Papst Benedikt XVI. scheint klar, dass in der gegenwärtigen Zivilisationskrise nur kirchlicher Traditionalismus einer überbordenden Moderne Paroli bieten kann. Die Wiedereinführung des tridentinischen Ritus als reguläre Form der liturgischen Feier, die Einsetzung der alten Karfeitagsfürbitte mit ihrem nur leicht modifizierten Gebet für die Juden und die Aufhebung der Exkommunikation der Bischöfe der Piusbruderschaft sind die in letzter Zeit öffentlich besonders registrierten Symptome für diese Orientierung des Papstes.

Traditionalismus und Ökumene

Die von Benedikt XVI. geübte Form von römischem Traditionalismus hatte schon Walter Dirks im Auge, als er folgende Überlegung formulierte: „Ein neuer Aufbruch im Pilgerweg sowohl des Einzelnen als auch der Kirche ist nicht Ungehorsam, sondern Gehorsam, aufmerksames Hören nämlich auf die Stimme dessen, der unsichtbar vorangeht und dem wir zugleich – in derselben Bewegung – entgegengehen“ (AdF III S.620).
Dirks unterstreicht, dass – anders als im vorkonziliaren offiziellen Katholizismus – das neue Verständnis des Glaubensgehorsams auch die großen historischen Ungehorsamen einbegreift, die hingerichteten Hus und Savonarola, die schismatischen Albigenser und Waldenser und viele andere. Über Luther schreibt er: „Man versteht, dass Martin Luther mindestens gehorsam sein wollte; ja alle vorurteilslosen Katholiken erkennen an, dass er mindestens zum Teil gehorsam war, als er zu einem neuen Verständnis  des  Glaubens und der Erlösung aufbrach.“ (AdF III, S. 620)

Autoritarismus und Befreiungstheologie

Dass Glaubensgehorsam nicht dasselbe ist wie Beugung unter kirchlichen Autoritarismus, konnte man in jüngster Zeit am Fall des Befreiungstheologen Jon Sobrino studieren, der ausgerechnet im Vorfeld der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Aparecida (März 2007) durch eine Notificatio der Glaubenskongregation (März 2007) zum Widerruf wichtiger Thesen seiner Christologie der Befreiung gezwungen werden sollte. In einem Brief an seinen Ordensoberen, Pater Kolvenbach, in dem er eine Unterschrift unter die Notificatio verweigerte, hat er öffentlich erklärt, dass die Glaubenskongregation ihn nicht nur übel ermahnt und bezichtigt, sondern der Vatikan schon früh in verschiedenen Diözesankurien und durch eine Reihe von Bischöfen ein Klima geschaffen hat, das sich gegen seine Theologie und die Befreiungstheologie überhaupt richtet. Die Linie, die Benedikt XVI. als Papst autoritativ durchzusetzen bestrebt ist, hatte er schon als Kardinal und Präfekt der Glaubenskongregation in vielfältigen Konflikten mit der Befreiungstheologie praktiziert: Befreiungstheologen, die mit den Armen lebten und arbeiteten, wurden an Traditionsmaßstäben einer eurozentristischen Theologie gemessen, die dem befreiungstheologischen Verständnis des Glaubensgehorsams schlechterdings nicht gerecht werden konnte (s. Konflikt um die Theologie der Befreiung, Diskussionen und Dokumente, hg. von N. Greinacher, 1985)
So zeigt sich heute in vielen Feldern, was Walter Dirks schon unmittelbar nach dem Konzil als entscheidende Frage der Zukunft vor Augen hatte: Wird es neue Aufbrüche im Gehorsam des Glaubens geben oder wird auoritativer kirchlicher Traditionalismus zur beherrschenden Macht? Auch am Umgang mit dem II. Vaticanum wird herauskommen, welchen Weg die Kirche in den vor uns liegenden Jahren gehen wird.

Literatur:
Walter Dirks, in:  Die Autorität der Freiheit, 1967 Johann Christoph Hampe (Hg.) – N. Greinacher, Konflikt über die Theologie der Befreiung, 1985 – M. Ramminger u.a., Der unterbrochene Frühling, 2006

Martin Ostermann