Wir wollen Kirche der Armen sein

In seinem neuen Rundbrief besteht der emer. Bischof Pedro Casaldáliga aus Brasilien auf der Aktualität des Katakombenpakt:

HEUTE HABE ICH DIESE TRÄUME NICHT MEHR“,
sagt der Kardinal.

Kardinal Carlo M. Martini, Jesuit und Bibelwissenschaftler, emeritierter Erzbischof von Mailand und mein Kollege als Parkinsonkranker, ist ein dialogbereiter, zugewandter und der stetigen Erneuerung von Kirche und Gesellschaft verpflichteter Kirchenmann. In seinem Buch “Jerusalemer Nachtgespräche“ [auf deutsch: Carlo M.Martini, Georg Sporschill, Jerusalemer Nachtgespräche. Über das Risiko des Glaubens. Herder-Spektrum Bd.5979, Freiburg 20083; Anmerkung des Übersetzers] gewährt er freimütig Einblick in sein Innenleben:Früher hatte ich Träume von der Kirche. Von einer Kirche, die ihren Weg in Armut und Demut geht, von einer Kirche, die nicht von den Mächten dieser Welt abhängt. Ich träumte davon, dass das Mißtrauen ausgerottet wird. Von einer Kirche, die den Leuten, die weiter denken, Raum gibt. Von einer Kirche, die Mut macht, besonders denen, die sich klein oder sündig fühlen. Ich träumte von einer jungen Kirche. Heute habe ich diese Träume nicht mehr“. Dieses kategorische Wort Martinis ist alles andere als eine Kapitulationserklärung, ein Ausdruck kirchlicher Enttäuschung oder gar ein Verzicht auf jegliche Utopie. Martini träumt vielmehr vom Anbruch des Reich Gottes, der Utopie aller Utopien, ein Traum Gottes selbst.
Er und Millionen Menschen in der Kirche träumen wie ich von einer „anderen möglichen Kirche“ im Dienst an einer „anderen möglichen Welt“. Kardinal Martini ist ein guter Gewährsmann und eine Leitfigur auf jenem alternativen Weg; das hat er bewiesen.

Wie in der Kirche (der Kirche Jesu, die ja aus verschiedenen Kirchen gebildet wird) so müssen wir auch in der Gesellschaft (mit ihren unterschiedlichen Völkern, Kulturen und historischen Prozessen) heute mehr denn je nach Gerechtigkeit und Frieden, nach Menschenwürde, nach Gleichberechtigung in Verschiedenheit sowie nach echtem, ökologisch verantworteten Fortschritt trachten. Nach Bobbio ist es „notwendig, die Freiheit wirklich im Herzen der Gleichberechtigung zu verankern“; und zwar heute mit einer strikt globalen Sicht- und Handlungsweise. Jene andere Globalisierung ist gefragt, die unsere Denker und Vorkämpfer, unsere Märtyrer und unsere Hungernden… verwirklicht sehen wollen.

Die aktuelle Wirtschaftskrise betrifft ohne Zweifel die Menschheit als Ganze. Diese Krise wird nicht durch welchen Kapitalismus auch immer überwunden, denn einen menschlichen Kapitalismus gibt es nicht; der Kapitalismus ist was er immer war: mörderisch, umweltzerstörend, im letzten selbstmörderisch. Man kann nicht zugleich dem Gott der Banken und dem Gott des Lebens dienen, Selbstgefälligkeit und Wucher mit geschwisterlichem Umgang verbinden wollen. Letztlich läuft alles auf die Frage hinaus: geht es um die Rettung des Systems oder um die Rettung der Menschheit? Große Krisen bergen große Chancen. Im Chinesischen bedeutet das Wort Krise zweierlei: Krise als Gefahr und Krise als Chance.

Im US-Wahlkampf wurde immer wieder auf den „Traum von Martin Luther King“ angespielt, willens, jenen Traum diesmal zu verwirklichen; genauso wurde anläßlich der 50 Jahre seit Einberufung des II. Vatikanischen Konzils wieder voll Wehmut der Katakombenpakt der dienenden und armen Kirche beschworen. Damals, am 16. November 1965, wenige Tage vor der Klausurtagung des Konzils, hatten 40 Konzilsväter in der römischen Domitillakatakombe miteinander Eucharistie gefeiert und den sogenannten Katakombenpakt besiegelt. Eine der treibenden Kräfte dieser prophetischen Gruppe war der brasilianische Bischof Hélder Câmara, dessen 100. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern. Jener Pakt pocht in seinen dreizehn Punkten auf die evangelische Armut der Kirche unter Preisgabe von Ehrentiteln, Privilegien und mondänem Auftreten; er pocht auf Kollegialität und Mitverantwortung in einer Kirche, die Volk Gottes ist, auf die Öffnung hin zur Welt und auf geschwisterlichen Umgang miteinander.

In der aktuell so aufgewühlten Lage bekennen wir uns zur Gültigkeit vieler sozialer, politischer und kirchlicher Träume, auf die wir unter keinen Umständen verzichten können. Wir lehnen auch in Zukunft den neoliberalen Kapitalismus, den Neoimperialismus des Geldes und der Waffen und eine bloß markt- und konsumorientierte, den weitaus größten Teil der Menschheit in Armut und Hunger stürzende Wirtschaft ab. Ferner lehnen wir jede Form von Diskriminierung auf Grund von Geschlecht, Kultur oder Rasse ab. Wir fordern dagegen eine gründliche Umgestaltung der globalen Organisationen (Vereinte Nationen, Weltwährungsfond, Weltbank und Welthandelsorganisation) und verpflichten uns zu einem echten, umfassenden ökologischen Lebensstil“, der einer alternativen Agrar- und Landwirtschaftspolitik zum Durchbruch verhilft gegen eine auf Großgrundbesitz, Monokultur und Ackergifte setzende zerstörerische Politik. Schließlich werden wir die nötigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen hin zu einer „Demokratie auf allen Ebenen“ mitgestalten.

Als Kirche wollen wir, im Licht des Evangeliums, Jesus in seiner unbändigen Leidenschaft für das Reich Gottes nachfolgen. Wir wollen Kirche der Armen sein, eine ökumenische, auch makroökumenische Gemeinde. Der Gott, an den wir glauben, der Abba Jesu, darf unter keinen Umständen als Grund für Fundamentalismen, Ausschlüsse, Vereinnahmungen oder Proselytenstolz herhalten. Hören wir auf, aus unserem Gott den einzig wahren Gott zu machen. „Lässt mich mein Gott Gott schauen?“ Mit allem Respekt vor der Meinung Papst Benedikts XVI., interreligiöser Dialog ist nicht nur möglich, sondern notwendig. Machen wir aus unserer kirchlichen Mitverantwortung den legitimen Ausdruck unseres erwachsenen Glaubens. Fordern wir gegen jahrhundertelange Diskriminierung die volle Gleichberechtigung der Frau im Leben und in den Ämtern der Kirche. Unterstützen wir die Freiheit und den wichtigen Dienst unserer Theologen und Theologinnen. Die Kirche möge ein Netzwerk betender, dienender, prophetischer Gemeinden sein, den Zeugen der Guten Nachricht: einer Guten Nachricht des Lebens, der Freiheit und der gelingenden Gemeinschaft. Einer guten Nachricht der Barmherzigkeit, der Aufnahme, der Vergebung und der Zärtlichkeit, Samariterin an den Rändern aller Menschenwege. Sorgen wir dafür, dass man im praktischen Leben der Kirche die Mahnung Jesu Ernst nimmt: „Bei euch aber soll es nicht so sein!“ (Mt 21,26). Autorität soll Dienst sein. Der Vatikan soll auf seinen Status als Staat verzichten, entsprechend der Papst auf seine Stellung als Staatsoberhaupt. Die Römische Kurie soll von Grund auf reformiert werden, und die Ortskirchen sollen die Inkulturation des Evangeliums und die Ämterteilung vorantreiben. Die Kirche verpflichte sich ohne Angst, ohne Ausflüchte auf die großen Ziele: Gerechtigkeit und Frieden, Menschenrechte, Anerkennung der Gleichheit aller Völker. Sie soll prophetisch in ihrer Verkündigung, ihrer Ermahnung und ihrer Tröstung sein. Die von Christen und Christinnen verantwortete Politik soll jenem „höchsten Ausdruck geschwisterlicher Liebe“ (Pius XI.) entsprechen.

Wir weigern uns, diese Träume nicht mehr zu träumen, auch wenn sie manchem als Hirngespinste erscheinen mögen: „Wir singen noch! Wir träumen noch“! Und halten uns an Jesu Wort: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen; wie froh wäre ich, wenn es schon brennen würde“ (Lk 12,49). Bescheiden und mutig, in der Nachfolge Jesu, werden wir versuchen, diese Träume in unserem Alltag zu leben. Es wird immer Krisen geben. Auch wird die Menschheit mit ihren Religionen und Kirchen zugleich heilig und sündig bleiben. Aber genauso wird es die weltweiten Solidaritätskampagnen, die Sozialforen, die Bewegung Via Campesina, die Graswurzelbewegungen, die Erfolge der Landlosenbewegung, die ökologischen Abkommen, die alternativen Wege Lateinamerikas, die kirchlichen Basisgemeinden, die Versöhnungsversuche zwischen Shalom und Salam, die Indio- und Afro-Siege geben. Ich jedenfalls „halte mich wie eh und je ans Wort von der Hoffnung“.

Allen, die diesen Rundbrief bekommen und die mit mir im selben religiösen Glauben oder derselben menschlichen Leidenschaft verbunden sind, eine diesen Träumen angemessene brüderliche Umarmung! Wir Alten werden noch Visionen haben, sagt die Bibel (Joel 3,1). Vor kurzem las ich folgende Definition: „Das Alter ist eine Art Nachkriegszeit“; eben keine bloße Schwäche. Die Parkinsonkrankheit ist dabei nichts weiter als eine Unannehmlichkeit auf dem Weg, dem Reich Gottes entgegen.

Pedro Casaldáliga Emerit. Bischof von São Félix do Araguaia, MT, Brasilien

Rundbrief 2009

Quelle: http://servicioskoinonia.org/Casaldaliga/cartas/200902CasaldaligaRundbrief.pdf